35: Coordination – conflict – compromise: the project «Lehrplan 21” from the perspective of “Sociology of Conventions”

Gehrig, Martin

  1. Pädagogische Hochschule Graubünden (PHGR), Chur, Schweiz

Koordination – Konflikt – Kompromiss. Das Projekt Lehrplan 21 unter konventionssoziologischer Perspektive

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Gehrig, Martin

Pädagogische Hochschule Graubünden (PHGR), Chur

In den 21 deutsch- und mehrsprachigen Kantonen der Schweiz ist der Lehrplan 21 mittlerweile in Kraft. Er definiert für die Volksschule 363 Kompetenzen, die in 2304 Kompetenzstufen gegliedert sind. Die Entwicklung des sprachregionalen Lehrplans dauerte insgesamt elf Jahre und kostete rund neun Millionen Franken. Um die 340 Personen waren in verschiedenen Gremien direkt ins Projekt involviert (D-EDK, 2015). Der Entwicklungsprozess zeigte sich sehr dynamisch, was darauf zurückzuführen ist, dass die Akteure auf ein prinzipiell offenes Ergebnis hinarbeiteten und ständig mit der Unberechenbarkeit des weiteren Projektverlaufs konfrontiert waren. Die Folge war ein fortlaufendes Bemühen, Ordnung in der Situation herzustellen. Hier setzt die Frage dieses Beitrages an: Wie schafften es die Akteure, den Prozess zu stabilisieren und ihre Handlungen zu koordinieren? Um das zu klären, wird der Entwicklungsprozess im Folgenden aus einem bildungshistorischen, einem erziehungswissenschaftlichen und einem soziologischen Blickwinkel betrachtet.

Aus bildungshistorischer Sicht war die Ausgangslage des Lehrplanprojekts zu Beginn der 2000er-Jahre geprägt durch eine bildungspolitische Aufmerksamkeitsverschiebung von Instrumenten des Inputs hin zu Wirksamkeitsfragen (Criblez et al., 2009). Mittels der Einführung von Bildungsstandards auf nationaler Ebene sollten die kantonalen Schulsysteme harmonisiert und über Leistungsvorgaben gesteuert werden (EDK, 2004). Das Standard-Konzept basierte auf der Idee der autonomen Einzelschule, welche im Rahmen eines so genannten Kerncurriculums inhaltlichen Gestaltungfreiraum erhalten, im Gegenzug aber mittels Schulleistungstests extern überprüft werden sollte (Klieme et al., 2003). Bereits am Anfang des Lehrplanprojekts wurde jedoch entschieden, kein Kerncurriculum, sondern einen direkt einführbaren Lehrplan zu entwickeln, der keiner Konkretisierung durch die Schulen bedarf (AG Lehrplanarbeit, 2005). Für diese «nächste Lehrplangeneration» (D-EDK, 2006) bestanden die Hauptherausforderungen darin, die Entwicklungsarbeit sprachregional zu koordinieren und das Verhältnis zu den im laufenden HarmoS-Projekts entwickelten Bildungsstandards zu klären.

Die erziehungswissenschaftliche Lehrplanforschung erlebte in den 1970-Jahren mit dem Versuch der Verwissenschaftlichung der Lehrplanarbeit und der theoretischen Bestimmung von Lernzielhierarchien ihre Blütezeit. Aufgrund der Kritik an ihrer technologischen Ausrichtung und dem schwindenden Interesse der Politik verringerten sich die Forschungsanstrengungen Anfang der 1980er-Jahre rapide (Buhren, Meier & Ruin, 2016). Die bis in die 1990er-Jahre fortgeführten Forschungsprojekte machten deutlich, dass zwar die meisten Aspekte der Lehrplanarbeit bekannt und empirisch untersucht waren, der Überschuss an Struktur- und Planungsproblemen und die Dynamik des Entwicklungsprozesses jedoch nicht theoretisierbar ist (Hopmann & Künzli, 1998). Mit der veränderten Steuerungsintention in der Bildungspolitik verschob sich Anfang der 2000er-Jahre auch die Forschungsperspektive weg von den Lehrplänen hin zu allgemeinen Fragen der Steuerung von Schulsystemen. Die Educational Governance Forschung identifizierte die Handlungskoordination als komplexes, interdependentes Wirkungsgeflecht im verschachtelten Mehrebenensystem der Schule (Maag Merki, Langer & Altrichter, 2014). Allerdings zeigte sich dabei das für die Sozialwissenschaften typische Problem, dass die Akteure selber die Struktur bilden, nach der sie wiederum handeln (Langer & Brüsemeister, 2019). Gefragt ist also eine theoretische Perspektive, welche dem Dualismus von Handeln und Struktur entgeht.

Die Soziologie der Konventionen (EC) bietet eine alternative Konzeption der Verbindung zwischen situativer Handlung und struktureller Wirklichkeit (Barthe et al., 2016). Soziale Strukturen wie z. B. Institutionen stellen nicht im Vorhinein den Analyserahmen dar, sondern gelten als sozial konstruierte Regeln. Ausgehend von den Akteuren werden Strukturen nur dann relevant, wenn sie zur Handlungskoordination herangezogen werden (Diaz-Bone, 2018). Analyseeinheit der EC bilden komplexe, durch Unsicherheit charakterisierte soziale Situationen. Die involvierten Akteure sind kompetent, in diesen Situationen unterschiedliche, historisch geformte Ordnungskonzepte ins Spiel zu bringen, um gemeinsam handlungsfähig zu bleiben (Boltanski & Thévenot, 2014). Für den Bildungsbereich wurden solche Ordnungskonzepte unter dem Begriff der «Schulwelten» von Derouet (1992) vorgelegt und von Leemann und Imdorf (2019) weiterentwickelt. Schulwelten bilden die Ressourcen, mit denen Akteure die Pluralität, Widersprüchlichkeit und Komplexität situativ flexibel bewältigen. Allerdings beinhalten sie auch widersprüchliche Handlungsrationalitäten, was zu Aushandlungen um gültige Ordnungsprinzipien führt.

Auf die Ausgangslage des Projekts Lehrplan 21 bezogen ergibt sich nun die Frage, wie die Akteure in den komplexen Aushandlungs- und Entscheidungssituationen kooperierten und welche Rolle dabei die Bezüge auf bestimmte Schulwelten spielten. Zur Beantwortung wird auf ein heterogenes Quellenkorpus aus öffentlichen und internen Lehrplandokumenten zurückgegriffen, die interpretativ-rekonstruktiv vor dem erkenntnistheoretischen Hintergrund der EC ausgewertet werden. Die Analyse fokussiert konfliktive Aspekte der Aushandlungsprozesse. Dazu wurden Themenkomplexe identifiziert, deren Bearbeitung sich über mehrere Projektphasen und Projektgremien hinweg als problematisch erwiesen, darunter das Stufenproblem der vertikalen Gliederung und Hierarchisierung der Lehrplaninhalte.

Die bisherigen Analysen zeigen, dass Handlungskoordination mehr einen interpretativen denn einen strategischen, auf ein definiertes Ziel hin ausgerichteten Prozess darstellt (Grass & Alke, 2019). Als bedeutsam für die Koordination erweist sich unter anderem der Kompetenzbegriff, dessen Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit es den Akteuren erlaubt, sich in den Aushandlungsprozessen auf die unterschiedlichen, auch widersprüchlichen Logiken der Schulwelten zu beziehen. Kennzeichnend für das Projekt Lehrplan 21 ist, dass mithilfe der Kompetenzmodelle ein Kompromiss zwischen der effizienten Schulwelt, wie sie die Bildungsstandards verkörpern, und der gemeinschaftsförmigen Schulwelt der individuellen Förderung geschlossen wird. Darin kann der Versuch gesehen werden, die Differenz zwischen dem normativen Programm der Schule und den individuellen Lernprozessen zu überwinden. Entwicklung und Produkt des Lehrplans können demnach als umfangreiche Investitionen in die soziale, räumliche und zeitliche Gültigkeit eines Kompromisses betrachtet werden.

Literaturverzeichnis

AG Lehrplanarbeit. (2005, 7. November). Deutschschweizer Lehrplan für die Volksschule. Auswertung der Konsultation zum Konzept für die Entwicklung. Bericht zuhanden der deutschsprachigen EDK-Regionalkonferenzen.

Barthe, Y., Blic, D. de, Heurtin, J.‑P., Lagneau, É., Lemieux, C., Linhardt, D. et al. (2016). Pragmatische Soziologie: Eine Anleitung. SozW Soziale Welt, 67(2), 205–232.

Boltanski, L. & Thévenot, L. (2014). Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft (Neuauflage). Hamburg: Hamburger Edition.

Buhren, C., Meier, S. & Ruin, S. (2016). Zum Stand der erziehungswissenschaftlichen Lehrplanforschung. In G. Stibbe (Hrsg.), Lehrplanforschung - Analysen und Befunde (Edition Schulsport Jubiläumsband, Band 30). Aachen: Meyer & Meyer Verlag.

Criblez, L., Oelkers, J., Reusser, K., Berner, E., Halbheer, U. & Huber, C. (2009). Bildungsstandards (Lehren lernen, 1. Aufl.). Zug, Seelze-Velber: Klett und Balmer; Klett/Kallmeyer.

D-EDK. (2006). Projekt "Grundlagen Deutschschweizer Lehrplan". Projektmandat (NW EDK, EDK-Ost & BKZ, Hrsg.).

D-EDK. (2015). Schlussbericht zum Projekt Lehrplan 21. Von der Plenarversammlung am 18.06.2015 genehmigt.

Derouet, J.‑L. (1992). Ecole et justice. De l'égalité des chances aux compromis locaux? Paris: Editions Métailié.

Diaz-Bone, R. (2018). Die "Economie des conventions". Grundlagen und Entwicklungen der neuen französischen Wirtschaftssoziologie (Soziologie der Konventionen, 2. Auflage). Wiesbaden: Springer VS.

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Hopmann, S. & Künzli, R. (1998). Entscheidungsfelder der Lehrplanarbeit. Grundzüge einer Theorie der Lehrplanung. In R. Künzli & S. Hopmann (Hrsg.), Lehrpläne: wie sie entwickelt werden und was von ihnen erwartet wird. Forschungsstand, Zugänge und Ergebnisse aus der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland ; nationales Forschungsprogramm 33, Wirksamkeit unserer Bildungssysteme (1. Aufl., S. 17–34). Chur: Rüegger.

Klieme, E., Avenarius, H., Blum, W., Döbrich, P., Gruber, H., Prenzel, M. et al. (2003). Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Bildungsforschung, Bd. 1. Bonn: BMBF.

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Leemann, R. J. & Imdorf, C. (2019). Das Potenzial der Soziologie der Konventionen für die Bildungsforschung. In C. Imdorf, R. J. Leemann & P. Gonon (Hrsg.), Bildung und Konventionen. Die „Economie des conventions“ in der Bildungsforschung (Soziologie der Konventionen, S. 3–45). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.

Maag Merki, K., Langer, R. & Altrichter, H. (Hrsg.). (2014).Educational Governance als Forschungsperspektive. Strategien. Methoden. Ansätze (Educational Governance, Bd. 17). Wiesbaden: Springer Fachmedien.